Vier Minuten Sternenzeit: Leben mit den kleinen und großen Rhythmen der Zeit von Wolfgang Held
“«Tick, tick, tick, tick ...» So klang es wahrend eines Sommers tiber viele Wochen in der Umgebung meines Biiros. Die Bildhauerin Mirella Faldey hatte in Sichtweite einen offenen Holzschuppen bezogen und ihre Werkstatt aufgebaut. Sie fertigte vier Freilandskulpturen und hatte sich als Material den hartesten Stein ausgesucht: Granit. Für dessen Bearbeitung sind speziell gehartete Stahlmeifel notwendig, die beim Schlagen einen hellen Ton von sich geben: «Ding, ding, ding». Nach vier Wochen hatte ich mich an das gleichformige helle Klopfen gewdhnt, sodass es mit den anderen Gerduschen und Kladngen der Landschaft verschmolz.
Dann folgte eine Uberraschung: An einem bestimmten Tag stérte das Schlagen von neuem, aber starker als am ersten Tag und machte mich zudem ausserordentlich nervös und unkonzentriert.
Fin Blick durchs Fenster zum Holzunterstand zeigte mir, dass aus der Bildhauerin vertretungsweise ein Bildhauer geworden war, der mit besonderem Eifer dem Stein zu Leibe rückte. Obwohl nicht lauter oder ungleichmäsiger, war sein Geklopfe dennoch kaum zu ertragen. Warum? Der Blick auf die Uhr führte zur Erklarung des Phänomens. Der «Aushilfsbildhauer» nutzte 170- bis 180-mal pro Minute den Meißel, also etwa drei mal pro Sekunde. Damit lag er, wie ich feststellte, deutlich über seiner Kollegin, die mit 140 bis 150 Schlagen pro Minute den Hammer in ruhigerem Tempo fihrte. Der Unterschied von 30 Schlagen mehr in der Minute scheint nicht beträchtlich, aber er ist dennoch entscheidend: Wahrend der langsamere Rhythmus noch in sich schwingt und man ihm sogar etwas Musikalisches abgewinnen kann, wirkt der schnellere Rhythmus maschinell und zwingt uns in seinen Bann.
Dem beschriebenen natürlichen Empfinden, ab welcher Schlagzahi ein Rhythmus seine Leichtigkeit verliert, liegt ein elementarer menschlicher Rhythmus zugrunde: Neben dem Rhythmus des Herzschlages von etwa 75 Schlagen pro Minute gibt es einen zweiten, ungefahr doppelt so schnellen Herzrhythmus, der durch die Antwort der Blutgefasse auf den Herzschlag, ihr elastisches Abfedern des Pulses zustande kommt: Nach einem Pulsschlag breitet sich die Druckwelle vom Herzen über Schlagader und Arterien in den ganzen Körper aus. Von dem fein verdstelten Gefässsystem wird der Puls’ Richtung Herz zurückgeworfen und lasst daraufhin das Blut ein wenig Da die Herzkammern nun geschlossen sind, kann das Blut nicht in sie zuriickfliessen, sondern brandet vom verschlossenen Herzen wieder in die Peripherie des Kreislaufsystems zurück. Auf jeden ursprünglichen Herzschlag folgt somit als Echo ein zweiter schwdcherer Puls, der im EKG als kleinerer Wellenberg zu sehen ist. Das Blut schwingt nicht nur im Rhythmus des Pulses von 75 Schlagen, sondern ausserdem in der doppelten Frequenz von etwa 150 Schwingungen pro Minute.
Dieser Oberton des Blutes wird als arterielle Grundschwingung bezeichnet und ist der schnellste veränderliche Rhythmus im Korper. […]”